In Northampton zeigte sich
Joe Cullen bei einem entspannten Ausstellungsabend ungewöhnlich offen. Zwischen Autogrammen, Showmatches und lockeren Gesprächen sprach der „Rockstar“ über seine wechselhafte Form, wachsende Frustrationen und seine veränderte Beziehung zu dem Sport, der ihn groß gemacht hat. Nach einer Serie intensiver Players Championships und mitten in der üblichen Jahresendhektik aus Turnieren, Reisen und Verpflichtungen nahm sich Cullen Zeit, um Bilanz zu ziehen – und um nach vorn zu blicken.
Ausstellungen als notwendige Atempause
Cullen genießt Abende wie diesen sichtlich. Für viele Top-Profis sind Ausstellungen eine willkommene Abwechslung im dicht gepackten Kalender – und das gilt für ihn ganz besonders.
„Man spürt keinen Druck wie auf der Pro Tour“, sagt er. „Man kann ein bisschen lachen, sich entspannen, und man sieht, wie sehr es den Fans gefällt. Das ist es, was Spaß macht. Und ganz ehrlich: Manchmal brauche ich diese Nächte, um einen gewissen Rhythmus zu behalten.“
Trotz des lockeren Rahmens schwingt ein ernster Kern mit. Cullen hadert mit seiner Form, die stetig zwischen Weltklasse und Enttäuschung schwankt.
„An einem Tag fühle ich mich großartig, am nächsten Tag werfe ich furchtbar“, sagt er offen. „Manchmal weiß ich nicht, wie ich spielen werde, wenn ich die Bühne betrete.“
Ein Beispiel, das ihm noch immer zusetzt:
„Gegen Ricky Evans auf der European Tour fühlte ich mich vorher fantastisch. So gut wie seit langem nicht mehr. Dann warf ich den vielleicht schlechtesten Wurf der Saison. Das fasst mein Jahr perfekt zusammen.“
Und doch hat Cullen 2024 zwei Titel gewonnen – ein bemerkenswerter Kontrast zu seinem persönlichen Empfinden.
„Es gibt Leute, die sehr konstant waren, aber keinen Titel geholt haben. Ich würde lieber konstant sein, aber ich habe zwei Titel. Irgendwo steckt es also noch in mir.“
Grand Slam-Frust und ein System, das überarbeitet werden muss
Den
Grand Slam of Darts verpasste Cullen erneut – ein Turnier, zu dem er eine regelrechte „Hassliebe“ pflegt. Die Enttäuschung überraschte ihn nicht, die Kritik am System jedoch spart er nicht aus.
„Die PDC weiß, dass die Kriterien nicht gut funktionieren. Sie konnten sie dieses Jahr nicht anpassen, aber nächstes Jahr werden sie es tun – sie müssen es.“
Mit der geplanten Ausweitung auf 48 Spieler und 16 Gruppen erwartet Cullen klare Strukturen.
„Die Top 16 der Welt sollten automatisch Gruppenköpfe sein. Das würde Sinn machen. Aber wie füllt man den Rest auf? Keine Ahnung. Wir müssen abwarten, was die PDC entscheidet – obwohl sie normalerweise einen guten Job macht.“
Ein Dauerbrenner in der Szene bleibt der Schutz der Top 16 bei bestimmten Turnieren. Cullen hat beide Perspektiven erlebt – jahrelang innerhalb der Elite, inzwischen außerhalb.
„Es ist fifty-fifty“, sagt er. „Ja, die Top 16 verdienen Schutz. Aber es stimmt auch, dass sie heute besser geschützt sind als früher. Als ich unter den Top 16 war, war das weniger der Fall.“
Am Ende weiß Cullen: Egal wie die Regeln aussehen, alle zufriedenstellen kann man nicht.
„Die Spieler, die die Qualifikation knapp verpassen, sind immer am lautesten“, sagt er mit einem nüchternen Lächeln.
Die Realität: Jeder ist mit sich selbst beschäftigt
Auf dem Floor drehen sich die Gespräche selten um große Namen, die Turniere verpassen. Weder über Michael van Gerwen, der es nicht nach Minehead schaffte, noch über Luke Humphries oder Nathan Aspinall, die phasenweise kämpften, wird lange diskutiert. Joe Cullen bringt es nüchtern auf den Punkt: „Niemand kümmert sich wirklich darum. In diesem Sport sind wir alle egoistisch. Ich will, dass es meinen Freunden gut geht, aber am Ende des Tages denke ich nur an mich – und sie auch.“
Viele Fans kritisieren Topspieler dafür, Pro Tours auszulassen. Cullen hält dagegen: „Die Fans denken, dass Topspieler nicht viel spielen, aber sie spielen wirklich genug. Manchmal mehr, als die Leute denken.“
Die Hildesheim-Debatte – und das liebevolle Augenzwinkern der Ironie
Besonders viel Kritik hagelte es, als Cullen und Johnny Clayton den Pro Tour-Standort Hildesheim als „uninteressant“ oder „nervig“ bezeichneten. Doch Cullen versichert: Sie sind längst nicht die Einzigen mit dieser Meinung.
„Ich denke, 19 von 20 britischen Spitzenspielern empfinden das Gleiche, sprechen es aber nicht laut aus. Das ist nichts Schlechtes: Wenn man nicht gehen will, muss man auch nicht gehen. So hat die PDC jahrelang gearbeitet.“
Dabei entgeht ihm die Ironie seines eigenen Werdegangs keineswegs:
„Ich habe Hildesheim niedergebrannt und dann dort einen Titel gewonnen, um mich für den World Grand Prix zu qualifizieren. Das hat man mir schon oft genug gesagt.“
„Ich habe die Liebe zum Spiel verloren“
Der vielleicht eindrucksvollste Moment des Abends kommt, als Cullen offen über seine schwindende Leidenschaft spricht.
„Es macht mir nicht mehr so viel Spaß wie früher“, sagt er ungewohnt deutlich. „Früher habe ich mich auf die Turniere gefreut. Jetzt freue ich mich vor allem darauf, mich mit den Jungs zu treffen. Das ist nicht gut, wenn man es an die Spitze schaffen will.“
Die Gründe seien vielfältig, persönlich – und ein Mix aus sportlichen wie privaten Faktoren.
„Es gibt Jungs, die weniger Talent haben als ich, aber hundertmal hungriger sind. Das spürt man im Spiel. Das ist der Punkt, an dem ich kämpfe.“
Als positives Gegenbeispiel nennt er Wessel Nijman:
„Er liebt das Spiel – und das strahlt er aus.“
Und auch der Aufstieg von Luke Littler habe der neuen Spielergeneration einen zusätzlichen Schub gegeben: „Heutzutage kann man Millionen verdienen, wenn man gut genug ist. Das zieht eine ganze Generation an.“
Feuer noch da – aber „schlafend“
Ist die innere Flamme bei Cullen also erloschen? Nicht ganz.
„Es ist nicht weg, es ist eher … schlafend“, erklärt er. „Im WM-Match gegen Wessel habe ich es plötzlich wieder gespürt. Aber das kann man nicht in jedem Spiel heraufbeschwören, schon gar nicht bei einem Floorspiel in Leicester.“
Er sucht erneut die Balance zwischen Pro Tour und TV-Bühne:
„Ich muss diese Mitte finden. Früher war ich gut auf dem Floor und schlecht im Fernsehen, später genau andersherum. Jetzt muss ich wieder beides kombinieren.“
Blick zum Alexandra Palace – und zur Pflichtleistung
Nach den Players Championship Finals richtet sich sein Fokus klar auf die
Darts WM im Alexandra Palace. Dort hat er viel Preisgeld zu verteidigen.
„35.000 Pfund sind eine Menge. Ich muss gut drauf sein. Vielleicht hilft mir eine schwere Auslosung – das macht mich nervös.“
Ausstellungen wie die in Northampton helfen ihm, den Rhythmus zu halten.
„Wenn ich zwei Wochen frei habe, übe ich nicht genug. Das kenne ich von mir selbst.“
2026: Neue Orte, neue Chancen – und private Vorsätze
Der Kalender für 2026 bringt frischen Wind. Neue European Tour-Stationen wie Kraków stehen an – ein Highlight, auf das sich Cullen besonders freut.
„Jeder, mit dem ich spreche, lobt Polen. Ich werde meine Frau mitnehmen. Wir wollen auch Auschwitz besuchen – das steht schon lange auf meiner Liste.“
Doch er weiß, dass er sportlich sofort liefern muss:
„Ich verteidige viel. Einen schlechten Start kann ich mir nicht leisten.“
Und so steht Joe Cullen am Ende eines bewegten Jahres vor einer neuen Saison, die vieles von ihm verlangt: Rhythmus, Lust, Stabilität – und vor allem den Mut, das Feuer wieder zu entfachen.