Kolumne Mike De Decker | Nur eine Sache ist schlimmer, als vor heimischem Publikum zu spielen: Jeden Tag Schokolade riechen

PDC
Samstag, 08 März 2025 um 2:39
mike de decker
Als Dorf ist Wieze wirklich der letzte Ort, an den man denkt, um Männer wie Luke Humphries, Michael Smith oder sogar unseren Landsmann Martin Schindler für die Belgian Darts Open zu empfangen.
Solltest du versuchen, den Ort nur mit deinem herausragenden Orientierungssinn zu erreichen, wirst du unweigerlich scheitern. Ohne GPS/Handy wirst du zwangsläufig auf schmalen Straßen landen, eine enger als die andere, stundenlang suchend zwischen Wiesen und Reihenhäusern, die alle gleich aussehen.
Ich stelle es mir so vor: Mike De Decker, der aus Mechelen mit dem Auto kommt, hat bereits fast 60 Kilometer hinter sich. Seine Mutter fährt. Oder seine bildschöne Freundin. Mit gesenktem Kopf beachtet Mike die sonnige Landschaft kaum. Er wiegt seine Darts in der Hand, hält die Barrel liebevoll fest. Es sind neue Darts. „Mann“, denkt er, „die sind viel schmaler, als ich es zwischen meinen Fingern gewohnt bin.“
„Viele Kühe hier“, bemerkt seine Mutter. „Hier riecht es nach Schokolade“, sagt die Freundin. „Ja“, antwortet Mike. „Hier steht eine große Fabrik von Callebaut, das ist der Geruch.“ „So ein Gestank!“, ruft die Mutter. Mike steckt seine Pfeile hastig weg. Er weiß, dass die Belgian Darts Open und somit die Oktoberhallen nur einen Katzensprung entfernt sind. „Hier finden auch Bierfeste statt“, denkt er. Deutsche Bierfeste. Kaum zu glauben, oder? Mitten auf dem Land, in einem Dorf mit nur etwa 400 Häusern, strömen dann Tausende Menschen zusammen, um sich hemmungslos zu betrinken.
Der nüchterne Mike steigt aus. Schnell wird er von einer Menschenmenge umringt. Alle sind hierhergekommen, um vor allem ihn zu sehen. Und heute auch Michael Smith. Er sucht Schutz vor der Menge. Diese Menschen lieben ihn. Sie wollen ihn heute siegen sehen.
***
Stunden später.
Bob Marley schallt aus den Lautsprechern. Sein Gegner Thomas Lovely wählte härtere Musik, in der ich „DJ Pied Piper and the Masters of Ceremonies - Do You Really Like It“ nicht erkennen konnte.
Mike ist jetzt in der Halle, und diese steht bereits kurz vor der Explosion. Die Bodyguards greifen kurz ein. Ein etwas zu enthusiastischer Zuschauer hält den Spieler ein wenig zu innig und zu lange fest. Doch die Bodyguards lösen die Situation, vor allem, indem sie nicht lachen. So wie es echte Bodyguards eben tun.
Mike De Decker hat die lange Reihe durchlaufen, und alle singen lautstark mit.
Er grüßt als Letztes die Familie. Kennt sie noch. Aus dem Auto.
Auf der Bühne sieht man Mike De Decker schauen und denken: „Das ist wirklich eine Menge Leute, die mich gewinnen sehen wollen.“ „Every Little Thing Is Gonna Be Alright“ singt die Menge weiter. De Decker ist gerührt. Der coole Kerl ist gerührt.
Der Druck, vor heimischem Publikum zu spielen, schleicht sich beim Belgier schon im vierten Leg ein. Thomas Lovely bleibt dran. Immer wieder. Mike kann ihn auf Abstand halten. Aber Simply Lovely ist besonders. Es sieht fast so aus, als würde er mit Steinen werfen. Seine ganze Schulter geht mit. Und Mike De Decker beginnt, den Kopf zu schütteln. Der Saal wird immer stiller.
Mike hat es schwer. Es steht 4-5. Mike blickt in den Abgrund. Nur ein paar Leute im Saal rufen noch „Mikey“.
Und dann passiert es zum zweiten und dritten Mal im Spiel. Wenn Thomas Lovely in Führung geht oder der bessere Spieler im Match wird, scheint er innerlich so glücklich zu sein, dass seine Schultern vergessen, den richtigen Befehl an Oberarm, Ellbogen und Unterarm zu geben.
Plötzlich wirft Lovely mit Steinen irgendwo in einem Dorf auf eine runde Scheibe. De Decker denkt. Nein, De Decker denkt schon lange nichts mehr. Er weiß, dass er vor eigenem Publikum wie ein begossener Pudel dasteht.
Doch es ist schlimmer als das. Er scheitert vor den Augen seiner armen Mutter, die ihn endlich mal wieder live spielen sehen kann. Denn wenn man Tag für Tag Brötchen im eigenen Laden schmiert, bleibt keine Zeit für Darts. Es muss gearbeitet werden.
Inzwischen steht es 4-5, und Lovely ist nur noch 17 Punkte vom Sieg entfernt.
Drei Pfeile noch, und es ist vorbei. Er wirft eine 1. Zwei Pfeile für Doppel 8! Doch er verfehlt.
De Decker, der gedanklich schon im Auto saß, schleppt sich zum Board. Die Schlankheit des Barrels zwischen seinen Fingerspitzen hat er völlig vergessen. Er hat nur noch einen Gedanken: „Doppel 5“, denkt er.
Richtig gedacht. Doppel 5! Und es steht 5-5.
Der Lärm schwillt jetzt auf nie dagewesene Höhen an. Das Dach droht einzustürzen.
De Decker beginnt mit 100. Der Debütant ist zäh, wirft ebenfalls 100. Dann nur 41 für den Belgier. Lovely wieder 100.
Kopf aus, wirft De Decker 140, nochmal 140, und plötzlich, bei 80, macht er es aus.
De Decker gewinnt, nimmt den Gegner innig in die Arme, zieht Thomas Lovely zu sich und massiert ihm den Rücken. Wahrscheinlich fragt er Lovely, warum er dieses Match nicht gewinnen wollte. Lovely bringt nur ein „Well played“ heraus.
***
Die Gewinner des Abends tauchen in die Nacht ein. Ein leichter Schokoladenduft weht durch das Autofenster.
Die Mutter hört ihren Sohn klagen: „Ich war heute schlecht.“
„Weißt du, warum die Menschen, die hier leben, so schlank sind?“, fragt sie ihn.
Keine Antwort.
„Weil sie schon lange keine Schokolade mehr sehen oder riechen können.“
„Ich rieche gerne Schokolade, Mikey“, sagt seine Freundin.
Mike De Decker lacht.
Zum ersten Mal an diesem Tag ist er wirklich glücklich.
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