Gary Anderson wirkte erschöpft, aber zufrieden, als er nach seiner Drittrundenpartie bei der
Darts WM 2026 im Presseraum Platz nahm. Der Schotte hatte soeben einen wahren Marathon gegen
Jermaine Wattimena gewonnen – 4:3 nach Sätzen, ein Duell voller Wendungen, Tempo und Nervenstärke. Es war kein Stückwerk, sondern ein echter Abnutzungskampf, in dem sich zwei erfahrene Profis nichts schenkten.
Andersons Erleichterung war deutlich spürbar. „Ich habe es selbst ein paar Mal liegen lassen, so einfach ist das“,
sagte der zweifache Weltmeister mit entwaffnender Ehrlichkeit. „Ich hätte auch 4:1 oder 4:2 gewinnen können. Aber gut – am Ende zählt nur, dass ich durch bin.“ Dabei spielte er mit einem Lächeln auf seinen knapp verpassten Neundarter an – die Doppel 12, die deutlich daneben ging. „Wir reden nicht über die Doppel 12, die habe ich wirklich verhauen.“
Ein Match auf Messers Schneide
Am Ende jubelte der „Flying Scotsman“. Nach sieben intensiven Sätzen stand er als Sieger auf der Bühne des Alexandra Palace – dank seiner wuchtigen Scoring-Power. Vierzehn 180er notierte Anderson in dieser Partie, insgesamt steht er nun bei 29 Turnier-Maxima. Eine Zahl, die ihm im
Rennen um den Ballon d'Art beste Vorraussetzungen gibt. Doch Anderson blieb bodenständig: „Jermaine hat stark begonnen. Er hat mich am Leben gelassen, weil er die Doppel verpasst hat. Später drehte sich’s – ich traf die 180er, verfehlte aber meine Chancen. Das pendelte hin und her.“
In dieser Form kann Anderson jeden Gegner bezwingen.
Tatsächlich entwickelte sich ein ungewöhnlich offener Schlagabtausch. Beide hielten sich gegenseitig im Spiel, keiner nutzte konsequent seine Möglichkeiten. Wattimena, der in diesem Jahr konstant stärker geworden ist, spielte in gewohnt hohem Tempo und zwang Anderson immer wieder zu Checkouts unter höchstem Druck. „Jermaine ist klasse – schnell, direkt, kein Firlefanz. So muss Darts sein“, lobte Anderson respektvoll. „Aber wenn ich das Tempo jedes Leg mitgehen müsste, wäre ich fertig.“
Trotz mancher ausgelassener Chancen blieb Andersons Niveau beeindruckend. Der Average lag erneut über 100 Punkten – zum zweiten Mal bei dieser WM. Ein Wert, der seine Formstärke untermauert, ohne ihn selbst in Euphorie zu versetzen. „Ich kann immer noch gut spielen, ob ich will oder nicht“, grinste er. „Aber ich hab auch ein Leben außerhalb dieser Bühne – Firmen, kleine Kinder … und jetzt spielt Ty auch Darts. Ich mache das hier, weil es Spaß macht.“
Diese gelassene Haltung unterscheidet den heutigen Gary Anderson deutlich vom nervösen jungen Star früherer Jahre. Er selbst sprach offen über seine Entwicklung: „Früher war ich so nervös, dass ich mich vor Matches übergeben musste. Heute ist das weg. Gewinne ich, schön. Verliere ich, fahre ich heim – auch gut. Es ist immer eine Win-win-Situation.“
Der Außenseiter, der keiner ist
Dass sich der Schotte gerne als Außenseiter sieht, macht ihn noch sympathischer. In Zeiten, in denen Namen wie Luke Humphries oder Luke Littler jede Schlagzeile beherrschen, geht Anderson seinen eigenen Weg. „Sollen die Jungs das Ding doch holen“, meinte er trocken. „Ich bin hier, um den Laden aufzumischen.“ Früher wollte er nur gegen Phil Taylor antreten – jetzt fordert er die neue Generation heraus. „Und das ist großartig. Ich liebe das.“
Auch das Publikum in London zeigte seine Anerkennung. Lautstark sang der Ally Pally für den Schotten. „Das ist fantastisch, aber auch Druck“, gab Anderson zu. „Die Atmosphäre war unglaublich. Und wir Schotten? Wir kriegen überall einstecken, das kennen wir.“
In der nächsten Runde könnte ein Duell folgen, das nach Darts-Geschichte riecht: Gary Anderson gegen
Michael van Gerwen. Beide haben sich unzählige WM-Schlachten geliefert – kraftvoll, emotional, legendär. „Michael weiß, was er an mir hat“, sagte Anderson augenzwinkernd. „Aber es hängt immer davon ab, welcher Gary auf die Bühne kommt. Wenn ich meine Scores halte und die Doppel reinmache, kann’s richtig schön werden.“
Routine trifft Leidenschaft
Man merkt: Der zweifache Weltmeister denkt nicht in großen Titeln, sondern in Momenten. Vielleicht ist genau das sein Erfolgsgeheimnis. „Ich bin 55, also nicht uralt, aber nach so einem Spiel pocht das Herz ganz schön. Trotzdem – es ist nur Darts. Manche drehen durch, wenn es nicht läuft. Ich nicht. Nächstes Jahr ist wieder eine WM, und vielleicht laufe ich da noch mal heiß.“
Eine neue Quelle seiner Freude ist Familie. Sohn Ty begleitet ihn in diesem Jahr, so oft es geht. „Es ist herrlich, ihn dabei zu haben“, erzählte Anderson fast rührselig. „Ich saß jahrelang allein in Hotels. Jetzt ist es Chaos – aber ein schönes Chaos.“
Ty, selbst schon begeisterter Spieler, tritt in die Fußstapfen seines berühmten Vaters. „Er rechnet jetzt schon besser als ich – und das mit elf“, lachte Gary. „Er ist Linkshänder, liebt das Spiel, und ich dränge ihn nicht. Wir werfen einfach zusammen, ganz locker.“ Auf die Frage, ob beide eines Tages gemeinsam im Ally Pally antreten könnten, folgte ein typischer Anderson-Spruch: „Dann muss er sich beeilen – in fünf Jahren bin ich sechzig.“